"Dieses kleine, sich leicht in jede Reisetasche schmiegende Buch sei jedem arrakesch-Reisenden als große Schule der Wahrnehmung ans Herz gelegt."
Stefan Weidner, Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Christoph Leisten hat ein Gegengift für die scheinbaren Versuchungen der Exotik geschrieben, wirksam nicht nur am Top-Tourismusziel Marrakesch, sondern auf unseren schlampigen, unsinnigen Reisen überhaupt. In 88 Prosaminiaturen nähert sich der Lyriker dem weltberühmten Platz Djemaa el Fna, wo das alte Nordafrika auf das moderne Dorf der Welt trifft. In einer paradoxen Bewegung der Annäherung, die das andere zugleich erfahren und doch wahren möchte, wird der Platz zur Metapher einer unendlichen Passage vom Eigenen zum Fremden."
Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung

"Eine Fülle von subtilen Beobachtungen und ausdrucksstarken Anmerkungen erwartet den Leser (...) Die Wahrnehmungen Leistens auf dem Platz der Gaukler sind von einer eigentümlichen Schönheit, die sowohl von seiner Sprachmacht als auch von seiner Liebe zum Detail zeugt."
Regine Mönkemeier, "Der Dreischneuß"

"Sätze, die einer Liebeserklärung gleichen. Christoph Leisten hat die Metapher des Menschlichen für sich in Marrakesch entdeckt. Dies in Worte, in Prosa zu fassen, ist dem Autor in einer packenden und mitfühlenden Weise gelungen."
Siegfried Malinowski, Aachener Nachrichten

Auszug:

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Blick von der Terrasse des Café de France. Die Unbeschreiblichkeit des Platzes
mag daher rühren, dass er jeder geometrischen Grundform entbehrt. Vergleiche
die Stadtpläne in den Reiseführern, die du mitgeschleppt hast: Nie wirst du den
Grundriss auch nur annähernd ähnlich eingezeichnet finden. Komm mehr- oder
vielmals hierher, und immer wieder wirst du einen anderen Platz vorfinden: Nach
Westen hin hat sich die Häuserfront gespreizt, die alte Busgarage ist näher
gerückt, zwischen Post und Bank Al-Maghrib klafft nun eine riesige Schlucht, und
die Koutoubia ist weit entfernt wie nie zuvor. Du gehst der asymmetrischen
Struktur des Platzes auf den Leim, die dich glauben macht, der Hohe Atlas läge
ein paar Autominuten hinter dem Eingang zu den Souks, während der Club
Méditerranée auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ein halbes
Jahrtausend entfernt sein müsse. Und die vertrauten, fremden, immergleichen,
neuen Menschenbilder dieses Platzes lehren dich die Wahrheit dieses Trugs.
Menschenmengen. Sie kommen aus dieser Stadt oder aus dem Hohen Atlas, nicht
vom Club Méditerranée, und sie haben mitunter eine weite und beschwerliche
Reise hinter sich. Aber diese Reise wird morgen oder übermorgen für sie der
Bruchteil einer Sekunde sein im Vergleich zu dem, was ihrer Erinnerung hier im
Verlauf von Minuten auf viele Jahre hin geschenkt wird: Geschichten. Sie hören
Geschichten, als gäbe es das wirklich noch: Geschichten von Lüge und Verrat,
von Liebe und Barmherzigkeit. Anfänglich sind es oft nur wenige, die in der Halqa
lauschen, dann stoßen andere hinzu, die sich den Beginn nun selbst zu denken
haben, und die doch den Fortlauf der Geschichte und damit selbst den Erzähler
verändern, denn die erweiterte Zuhörerschaft verlangt nach größeren und
lauteren Worten und nach einem Mehr an Gestikulation. Sie alle bringen ihre
Geschichte mit und lassen sie sich neu erzählen. Es gibt traurige und komische
Geschichten, lang ausholende und kurze und Geschichten ohne Zeit, Geschichten
für Frauen, für Männer, für Kinder, aber niemand kontrolliert die Zuhörerschaft.
Jeder auf dem Platz trägt das Seine dazu bei, dass die Geschichten erzählt
werden können, und nur, wer gar nichts anderes hat, der zahlt in barer Münze.
Auch gibt es die Geschichten, die gar nicht laut erzählt werden müssen, denn sie
werden aufbewahrt in kleinen Schatullen oder in Fläschchen oder sie liegen
sorgsam ausgebreitet auf einem fleckigen Teppich und helfen gegen allerlei
Unbill, den bösen Blick, die Gicht, den untreuen Gemahl, die Liebe, das
Erschlaffen oder den Tod. Keines Wortes bedürfen diese Geschichten, weil jeder
um ihr Geheimnis weiß, oder wenn nicht, dann wenigstens um das ihres
Anbieters. Und neben all diesen Geschichten gibt es immer noch die Schreiber,
die im Auftrag eines Unkundigen ein Papier ausfüllen, einen Brief aufsetzen, ein
Testament verfassen, und wer könnte sagen, was an dem, was ihnen diktiert
wird, und an dem, was sie niederschreiben, die Wahrheit ist und was erfunden,
oder was am Ende eine höhere, weil erfundene Wahrheit genannt werden könnte.
Die geheime, in jedem Moment sich neu formierende Ordnung auf dem Platz: In
Wahrheit sind es die Menschen, die seine Architektur bestimmen, nicht die
Mauern. Während die Schreiber von einzelnen Menschen aufgesucht werden,
bilden sich um die Geschichtenerzähler Kreise, Halqas, Inseln im Meer.
Schwankende Inseln, die wachsen und sich verdichten, die an den Rändern
zerfasern und bröckeln, die sich vereinigen und die sich spalten. Veränderte
Physiognomie der Erde in Jahrtausenden. Alles fließt, bewegt sich oder hält still,
wie nach einer inneren Bestimmtheit. Die Sorge um das Abendbrot. Hoffnung auf
ein kleines Glück, am Spieltisch oder mit der auserwählten Frau. Die Freude über
den gestrigen Tag, den Schluck Wasser oder die zärtliche Vormittagssonne. Angst
vor morgen. Lust auf eine Berührung, auf den gegrillten Fisch, Lust auf einen
Abschnitt aus einem Buch aus der Universitätsbibliothek. Die Trauer über eine
zerbrochene Freundschaft, der Ärger über die misslungene Tajine. Das Glück
eines Lottogewinns, eines erhörten Gebetes oder das der Geburt eines Kindes.
Der Zwiespalt, eine käufliche Frau zu nehmen oder zum Kartenspiel zu gehen
oder eine blütenweiße, brokatverzierte Gandorra zu kaufen. Die Erinnerung an
ein Telefonat, an den seligen Vater oder an die Fußballübertragung gestern im
Café. Der Traum, to be in America oder Lehrer zu sein oder wenigstens Kellner
auf der Terrasse dieses großen weitläufigen Cafés mit dem französischen Namen.
Das Glück oder das Unglück, jemanden zu treffen (oder nicht zu treffen) auf
diesem Platz. Der Plan, eine entfernte Verwandte zu besuchen und ihr einen
kleinen Kuchen mitzunehmen. Die Suche nach einem weggeworfenen Stück Brot
oder nach den Stöpseln leerer Coca-Cola-Flaschen. Nachdenken über den
richtigen Sitz der Krawatte oder ob das Geld bleibt für ein Hammam am Abend.
Die Sehnsucht nach Ablenkung, nach Aufklärung, nach dem Geliebten und
seinem Wohlgeruch unter den Achseln. Der Verlust eines Einkaufszettels, einer
Telefonnummer und der eines Geldscheins. Der Duft der Minze dieser Stadt. Der
Rhythmus der Gnaoua-Trommeln, die eine Melodie ins Ohr diktieren. Der Blick
auf die Uhr. Hände, die einander streifen und berühren, die einander zärtlich
fassen oder sich meiden. Kleidungsstücke, die aneinander rühren oder die sich
verfangen. Jemand legt die Hand auf eines anderen Schulter: unerwartete
Begegnung. Gaslaternen werden gebracht, unlängst ist Dämmerung eingekehrt.
Schon färbt sich die Sonne rot, und wieder ändert die Djemaa el Fna ihr Gesicht.

© Rimbaud Verlag