Auszug aus: Zeichen & Wunder, Heft 46, Dezember 2005

Schillerndes Panorama

Vom Paradies kann nicht die Rede sein. Und von Arkadien schon gar nicht. Eng
umrissen sind die Grenzen jenes mittelgebirgischen Territoriums, das den Hintergrund
bildet für Norbert Scheuers Erzählen. "Kall, Eifel" lautet der Titel seiner jüngsten Arbeit,
und die in diesem Titel angegebene kleine Eifelgemeinde bezeichnet nicht nur das
Setting, das Norbert Scheuer schon für seine beiden letzten Romane wählte, sondern
zugleich auch den Wohnort des Autors. Diese beiden Umstände nun ließen vermuten, es
handle sich bei seinen Büchern um eine Art Provinz- oder Regionalliteratur, die in
heimatloser Zeit ein gewisses Bedürfnis nach Heimat bedient. Dass davon allerdings
noch weniger die Rede sein kann als von Arkadien, liegt in Norbert Scheuers Erzählen
selbst begründet.

Mit erzählerischem Geschick verknüpft Scheuer in "Kall, Eifel" die Lebensgeschichten
von etwa zwei Dutzend Menschen: lauter versprengte, beladene, gezeichnete,
scheiternde Existenzen, deren Lebensschicksale den Stoff hergäben für Kompendien
seziererischer Psychologie. Aber in "Kall, Eifel" wird kein Mensch seziert. Vor dem
Hintergrund eines in gleichermaßen dezenten wie feinfühligen Anspielungen gewonnenen
Landschaftspanoramas lässt Scheuer seine Figuren leben, lieben, scheitern, gewinnen,
hoffen und sehnen, ohne dabei zu werten, zu klassifizieren oder gar abzuwerten. Ja, die
außerordentliche Leistung dieses Werkes besteht darin, gerade das Abseitige und das
Verborgene der kleinen menschlichen Existenz mit so viel Empathie und Mitgefühl zu
schildern, dass dadurch ein schillerndes Panorama entsteht, das weit über die
geographische Provinz hinaus und geradewegs in die Provinz des Menschen selbst führt.
Damit unterscheidet sich Scheuers Erzählen in fundamentaler Weise von einem Großteil
zeitgenössischer Literatur, die ihren Gegenständen oftmals nur mit der Distanz von
Ironie oder Überheblichkeit zu begegnen sucht. Schwer zu sagen, was die größere
Leistung ist: diesen in der eigenen Heimat angesiedelten (und freilich doch erfundenen)
Gestalten ohne jenen Vorbehalt zu begegnen, oder aus ihrem Zusammenspiel eine
eigene Welt zu erschaffen, die weit über das Provinzielle hinausragt.

Formal knüpft Norbert Scheuer mit seinem neuen Buch an Werke wie Sherwood
Andersons "Winesburg, Ohio" an und widmet jeden der insgesamt 45 Erzählabschnitte
einer einzelnen Figur. Allein darin deutet sich bereits die Wertschätzung der je
individuellen Existenz an. Im Zusammenspiel der Passagen offenbart sich dann das
filigrane Gewebe einer Erzählkonstruktion, in der die Lebensgeschichten der
verschiedenen Figuren auf unterschiedlichste Weise miteinander vernetzt erscheinen.
Die lakonischen Einwort-Titel - "Kirmes", "Ameisen", "Glück", "Perseus", "Schatten",
"Flugzeuge" und "Vogelfeder" etwa - lassen subtil eine Atmosphäre assoziieren zwischen
Mensch und Kreatürlichkeit und öffnen gleichermaßen den Blick auf überraschende
Wendungen im Geschehen. Diese freilich werden mitunter nur angedeutet: Scheuer ist
auch einer Meister erzählerischer Lakonie, der in Beifügungen und Nebensätzen ganze
Biographien zu erschaffen vermag.

Dass den Erzählungen ein melancholischer Unterton eignet, ist ihnen keineswegs
vorzuwerfen. Immer wieder leuchtet das Glück auf, in kleinen und kleinsten Momenten.
Und so sind es zuletzt weder das Scheitern noch die Unmöglichkeit einer ersehnten
Liebe, die sich dem Leser so tief ins Bewusstsein eingraben, sondern die Glücksekunden
von Hoffnung, Sehnsucht und Wunsch, die momenthaft mit der Wirklichkeit versöhnen
und eine Bejahung des Lebens durchscheinen lassen. Dass Scheuer den Blick gerade für
dieses kleine Glück zu schärfen vermag, ist eine der vielfältigen erzählerischen Leistung
eines Buches, dessen größte unzweifelhaft darin besteht, Bilder ohne Vorbehalt zu
zeichnen, Bilder der menschlichen Existenz, der bei aller Gebrochenheit mit
Wertschätzung zu begegnen ist. So ist dem Autor dieses Erzählwerks, das die
Gattungsgrenzen zwischen Roman und Erzählzyklus auf innovativste Weise sprengt, eine
Qualität zu bescheinigen, die in einer Zeit maßgescheiderter Erfolgsliteratur
vordergründig vielleicht altmodisch klingen mag: erzählerisches Ethos. Hätten wir mehr
von dieser Art Literatur, dann ließe sich beinahe reden von einem paradiesischen
Zustand.

Norbert Scheuer: Kall, Eifel. München: C.H. Beck, 2005. @ € 19,80


Markante Eckpunkte

Seit etlichen Jahren ist der Verlag Landpresse ein Hort der zeitgenössischen Lyrik.
Renommierte Autoren wie Jürgen Nendza fanden hier ihre verlegerische Heimat, und in
schöner Regelmäßigkeit versammeln die Gedichtanthologien dieses Verlages das weite
Spektrum der deutschsprachigen Poesie. Das Konzept lyrischer Begegnung, das in
diesen Anthologien durchscheint, ist numehr in zwei bemerkenswerten Publikationen des
Verlages auf andere Weise zu besichtigen: Zwei Autoren, die in ihren lyrischen
Diktionen kaum unterschiedlicher sein könnten, nämlich Axel Kutsch und Amir Shaheen,
haben sich bei ihrer Gedichtproduktion über die Schulter geschaut und ihre beiden
Bände wechselseitig lektoriert. In der Zusammenschau loten die beiden jetzt
vorliegenden Bände ein Spektrum des lyrischen Sprechens aus, indem sie markante
Eckpunkte setzen.

Als Anthologist gehört Axel Kutsch seit Jahrzehnten zu den bedeutenden
Persönlichkeiten der Lyrikszene. Dass er selbst als Lyriker weniger bekannt ist, muss
seiner Bescheidenheit und seiner dezenten Zurückhaltung zuzuschreiben sein. An den
Texten kann es jedenfalls nicht liegen, wie auch dieser zehnte (!) Band "Ikarus fährt
Omnibus" zeigt. Seine Domäne ist seit vielen Jahren vornehmlich das satirische Gedicht
- eine Textart, die im Lyrikbetrieb mitunter etwas arwöhnisch betrachtet wird. Das mag
prinzipiell gute Gründe haben, glaubt doch gerade mancher Satyr unter den Lyrikern
(darunter auch manch ganz berühmter), den gesamten Betrieb konterkarieren und
-salopp - auf die Schippe nehmen zu müssen. Von solcher Ignoranz und Hochstapelei ist
Axel Kutsch jedoch meilenweit entfernt. Seine lyrisch-satirischen Miniaturen sind
jederzeit klug gespeist von Formbewusstsein, ästhetischem Empfinden und poetischem
Feingefühl. Mit Wortwitz reflektieren Kutschs Gedichte die Möglichkeiten und die Grenzen
dichterischer Erkenntnis. Sie thematisieren Schreibstile und Sinnstiftung, Formgebung
und Bildlichkeit, womit sie im Kern so etwas liefern wie eine Poetologie in Gedichten, die
sich dem Schweren so wenig verschließt wie dem Leichten. In Kutschs Versen ist
jederzeit spürbar, dass ihr Schöpfer etwas von seiner Materie versteht und dass er der
Dichtung - gerade auch anderer - mit höchster Wertschätzung begegnet. Besonders in
den metalyrischen Gedichten sucht Kutsch immer wieder das Gespräch mit dem Leser,
führt ihm abwägend und doch letztlich aufschlussreich die Möglichkeiten des Gedichts
vor Augen, sodass man getrost sagen kann, dass sein Band auch zur Heranführung an
die zeitgenössische Dichtung bestens geeignet ist. In anderen Gedichten öffnet sich auf
kleinstem Raum ein weites Spektrum geschichtlicher und politischer Reflexion, wenn es
etwa heißt: "Die Erde / ist ein / blutiger Kopf." oder: "Der Preuße starb / den Heldentod.
// Der Preuße war / ein Idiot." - Immer führt dieser Wortwitz in die Tiefe und weiter in
Räume der Assoziation, wo sich filigrane Welten entfalten.

Ganz anders gelagert erscheint auf den ersten Blick Amir Shaheens dritter Lyrikband
"Keine Wendemöglichkeit". Formal steht diese Sammlung (wie auch die beiden früheren
dieses Autors) in der Tradition des amerikanischen Gedichts etwa eines Carlos William
Williams, aber es sind auch immer wieder Anklänge an Rolf Dieter Brinkmann und die
Neue Subjektivität zu erkennen. Ami Shaheens poetischer Raum sind die Stadt, die
Straße sowie - vermehrt - die Phänomene der neuen Technologie, die in all ihrer
Unwirtlichkeit doch immer wieder Momente der Begegnung aufscheinen lassen. Und:
Momente der poetologischen Reflexion. Dass diese Gedichte trotz ihres - beinahe
möchte man sagen - "traditionellen" Settings nichts Epigonenhaftes eignet, liegt an der
Konsequenz, mit der Shaheen seine Panoramen entwickelt und die Bilder immer wieder
umbrechen lässt in überraschende Wendungen. Zwischen den allenthalben vorhandenen
"Koordinaten der Käuflichkeit" will diese Dichtung "Die verschütteten Bilder / neu
belichten", was zweifelfsfrei gelingt. Scheint die Wirklichkeit selbst "Keine
Wendemöglichkeit" zu bieten, so tun Amir Shaheens diese Gedichte umso mehr.


Axel Kutsch: Ikarus fährt Omnibus. Gedichte.
Weilerswist: Landpresse 2005. € 17,-
Amir Shaheen: Keine Wendemöglichkeit. Gedichte.
Weilerswist: Landpresse 2005. € 17,-